Wie wir alle wissen, hatte der Sozialismus vier Hauptfeinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Dies gilt auch für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Allerdings kommt bei diesem noch ein fünfter Gegner hinzu: der Fahrgast! Denn dieser will doch tatsächlich innerhalb vorgegebener Fristen, auf vorbestimmten Strecken und Routen zu vorab vereinbarten Zeiten von A nach B gebracht werden. Welch maßloser Anspruch!
Das freuten sich die Bruchsaler Stadtwerke als Betreiber der Stadtbuslinien vor drei Monaten über das 9-Euro-Ticket, welches wieder viele Fahrgäste in die Busse bringen würde. Der Aufsichtsrat der Karlsruher Verkehrsbetriebe (KVV), Landrat Christoph Schnaudigel, war hingegen skeptischer und befürchtete insbesondere Einnahmeverluste für die Verkehrsbetriebe.
Doch ganz unabhängig von der gegenwärtigen wie zukünftigen Preisgestaltung hapert es seit geraumer Zeit an Dingen, die die ÖPNV-Nutzer zunehmend verzweifeln lassen und wenig Anlass bieten, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Ungeschützt in der Hitze, im Regen und Wind
Würden die Verantwortlichen des Öfteren selbst klimaschonend unterwegs sein, auf ihre Dienstwagen verzichten und Busse und Nahverkehrszüge benutzen, sie würden mit einigen recht unangenehmen Realitäten konfrontiert werden. Erstens wäre nicht immer sicher, dass ihre Fahrten überhaupt stattfänden! So kann es vorkommen, dass bei KVV oder den Stadtbussen die Beförderungen kurzfristig einfach ersatzlos gestrichen werden.
Die Bruchsaler Stadtwerke haben ganze Linien gestrichen, versuchen aber inzwischen wenigstens, täglich über die Presse und das Internet zu informieren. Für Menschen mit limitiertem Zugang zu diesen Medien und bei sehr kurzfristigen Fahrplanänderungen bedeutet dies angesichts des Mangels digitaler Hinweisschilder und oft fehlender Wartehäuschen oder Sitzgelegenheiten, dass sich die Fahrgäste ungeschützt an Hitze, Regen und Wind erfreuen dürfen und dabei darüber spekulieren können, ob ihr Bus wohl überhaupt eintrifft.
Die KVV, digital besser ausgerüstet, firmiert immer öfter mit dem lapidaren Hinweis am Bahnsteig: Zug fällt aus! Für Pendler, die rechtzeitig zur Arbeit erscheinen wollen, eine erquickliche Angelegenheit.
Zweitens würden die Verantwortlichen erfahren, dass der Begriff Pünktlichkeit im Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln inzwischen unter den Fahrgästen bestenfalls Gelächter hervorruft, in schlimmeren Fällen jedoch Wut, erhöhten Blutdruck und Atemnot. Sie könnten ein Lied davon singen, wenn vermehrt Oberleitungsschäden auftreten und fast nichts mehr geht. Auch könnten sie sich darüber amüsieren, wenn sich eine Abfahrt im Nahverkehr um schlappe 55 Minuten verzögert, weil ein Zugführer aufgrund eigener ÖPNV-Verspätung den Dienst nicht rechtzeitig antreten konnte.
Drittens hätten die ÖPNV-Entscheider bei Busfahrten gelegentlich sogar das ganz besondere Vergnügen, eine geschlagene Stunde ohne jegliche Angabe von Gründen an einer Haltestelle ungeschützt verharren zu dürfen, weil der Bus doch tatsächlich einige Minuten vor der Abfahrtszeit vorbeifuhr (in der DDR kannte man dafür den berühmt-berüchtigten Ausdruck „vorfristig“…). Beschweren kann man sich darüber, so wird Betroffenen gesagt. Nur scheint dies nicht unbedingt zu fruchten.
Personalbestandsmangel ist entscheidender Faktor
Schlussendlich könnten sich die Verantwortlichen besonders bei KVV-Fahrten darüber in Kenntnis setzen, dass Zugbegleiter schlichtweg kaum vorhanden sind und allgemeine Gepflogenheiten der Rücksichtnahme oder das Einhalten der Maskenpflicht von einer manchmal recht rabiaten Minderheit der Fahrgäste als Zumutungen empfunden werden. Auch bekämen die ÖPNV-Verantwortlichen insbesondere zu fortgeschrittener Stunde einen Einblick von Lärm und Schmutz in öffentlichen Bahnen, von Bahnhöfen an Wochenenden ganz zu schweigen.
Abzuraten wäre allerdings davor, manche Zeitgenossen spätabends auf derartige Regelverstöße hinzuweisen, die Sache könnte böse enden. Da heißt es dann einfach: locker bleiben und die Angelegenheit als Ausdruck von Vielfalt und kultureller Diversität betrachten.
Alles ist nicht über Nacht zum Besseren zu verändern und ist oft Entwicklungen jenseits der Verantwortung der ÖPNV-Betriebe geschuldet. Dennoch bleibt festzuhalten: Der Personalbestandsmangel des ÖPNV ist ein entscheidender Faktor der unhaltbaren Unwägbarkeiten der Betriebsabläufe, frustriert zunehmend die Kundschaft und wird – Corona hin oder her – den kommunalen Verkehrsdienstleistern noch längere Zeit erhalten bleiben.
Das die Wehrpflicht abgeschafft wurde, hat man scheinbar bis heute nicht bemerkt
Bei den Bruchsaler Stadtwerken ist man zwar nur für den Fuhrpark zuständig; die Busfahrer stellt die DB-Regio. Dort hat man wiederum scheinbar bis heute nicht bemerkt, dass die Wehrpflicht abgeschafft wurde und die Bundeswehr nicht mehr jährlich tausende zusätzliche Busfahrer ausbildet.
De facto haben sich die Stadtwerke und damit die Bruchsaler Busfahrgäste offensichtlich bisher der (unzulänglichen) Personaldisponierung der DB-Regio auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die KVV ihrerseits hat offensichtlich seit Jahren schlichtweg Probleme, selbst genügend Personal auszubilden und dieses auch zu halten.
Daher: Es ist richtig, dass schon aus Umweltgesichtspunkten mehr Menschen den ÖPNV benutzen! Dazu muss dieser aber wenigstens zwei Aspekte garantieren: Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Ein gewisses Maß an Komfort, Sicherheit und Kundenfreundlichkeit wären ebenfalls nicht abträglich. Manche internen Abläufe ließen sich wohl drastisch entschlacken (schon banale Presseanfragen zum Stadtbus setzen ganze Mitarbeiterstäbe in Bewegung…), andererseits fehlt zusätzliches Personal vor Ort und in Kundennähe.
Bis Anpassungen erreicht sind, braucht man nicht über neue Stadtbahneinschleifungen und Streckenabschnitte schwadronieren!
Übrigens: Ich lade die ÖPNV-Verantwortlichen gerne mal an einem Freitagabend zu einer ÖPNV-Fahrt ins Blaue durch unseren Landkreis ein. Sie werden möglicherweise ihr blaues Wunder erleben…
Text: Hubert Hieke
Aus RegioMagazin WILLI 09/2022
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