Mit vielen historischen Fotos im unteren Bereich dieses Artikels
Schon nach den ersten Trommel‑ und Pfeifentönen spürt man den Rhythmus, der Generationen von Bruchsaler Kindern begleitet hat. Im Farbfilm, den Videofilmer Norbert Siegel damals mit seiner 8‑mm‑Kamera aufnahm, marschiert das weiß gekleidete Spielmannszug‑Korps die Huttenstraße hinunter, dort wo heute das Altenzentrum ist; dahinter wogen rote Schleifen um einen frühlingsgrünen Maikranz. Vielleicht entdecken Sie sich in der Reihe der Jungen mit den spitzen Papierhüten oder erkennen die gelben Schleifen, die Ihre Schwester einst gedreht hat.
Der Zug von 1964 war einer der letzten vor der Pause Ende der Sechziger. Man sieht noch die klassische Route die Huttenstraße entlang, die Steinmauer voller Zuschauer – viele Väter im Sonntagsanzug, Kinder auf den Schultern. Wagenweise Brezelkränze und ein Schneemann mit gestreiftem Zylinder rollen durch die enge Kurve Richtung Schlossachse. Die Kamera fängt auch die kleinen Gesten ein, an die man sich nie bewusst erinnert: ein Mädchen, das kurz einen Schuh richtet, ein Trommler, der den Takt für seinen Nebenmann mitnickt.
Wer früher selbst mitlief, spürt sofort den besonderen Klang der Holzreifen auf dem Asphalt und das Krisseln der Strohreste im Kostüm. Und wer später geboren ist, versteht, warum Bruchsaler Eltern heute noch jede Bastelphase mitmachen, weil man dabei sein will beim großen Wintervertreiben.
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Geschichtliches: Der Bruchsaler Sommertagszug in Anekdoten & Fakten
Vorchristliche Wurzeln & erste Belege
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Der Brauch des Winteraustreibens („Todaustragen“) ist in Mitteleuropa bereits vorchristlich belegt. In der Kurpfalz finden sich Hinweise ab 1534; Liselotte von der Pfalz erwähnt ihn um 1700.
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Ein Ratsprotokoll von 1792 nennt erstmals zwei als Sommer und Winter verkleidete Bruchsaler Jungen, begleitet von Mitschülern – der erste gesicherte Stadtbeleg.
1901 / 1902: Die Wirtshaus‑Idee
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Sebastian Schwaninger und Drehermeister Alexander Lang entdeckten den Laetare‑Umzug in Heidelberg, erzählten beim Bier im Bahnhofslokal von ihren Eindrücken – Wirt Ferdinand Keller rief spontan zur Nachahmung auf. Schon am 11. März 1902 stürmten Bruchsaler Kinder mit bunten Stecken durch die Stadt.
Trommeln & Pfeifen – Vom Morgenwecken zur Zugspitze
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Bis in die 1970er sorgte eine Trommler‑ und Pfeifergruppe um 6 :30 Uhr für das traditionelle „Morgenwecken“ .
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Heute bleiben die frühen Bettschreck‑Takte aus, aber die Trommler‑ und Pfeifergarde der Musik‑ und Kunstschule führt den Zug musikalisch an .
Der Schneemann des Ski‑Clubs (seit 1949)
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Gebaut im bombenzerstörten Hof der Familie Blaschek – so groß, dass man hineinklettern konnte.
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Technische Gags: drehbarer Kopf, herausstreckbare Zunge, Feuerwerk im Hut. 2009 stand erstmals eine Schneefrau auf dem Wagen .
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Traditioneller Dresscode der Erbauer: weißes Hemd & Zylinder.
Wechselnde Feuerplätze
Holzmarkt (1920er) → Friedrichsplatz (1950er) → Bergfried (1961) → Schlossspielplatz (1984) → Ehrenhof des Schlosses (seit Ende 1980er) .
Große Pausen, große Comebacks
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1830er/40er Teilverbote; 1914–1921 & 1939–1949 kriegsbedingte Ausfälle.
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1963 – 1983 kein Zug – Konkurrenz der neuen Fasnacht und Organisationsmüdigkeit.
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1984 Neustart durch das Sommertagszug‑Komitee; 2020/21 erneute Zwangspause wegen Corona .
Teilnehmer‑ und Besucherrekorde
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1950: 40 000 Zuschauer bejubeln den ersten Nachkriegszug.
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2025: rund 1 000 Kinder aus Schulen & Kitas gestalten den Umzug.
Musik, Medaillen & Mundart
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Leitmotiv: „Schtrieh, Schtrah, Schtroh, der Sommerdag isch do!“
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Sommertags‑Medaille 1908: Tannenzweige (Winter) & Ähren (Sommer).
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Sommertagsfahne von 1949/50 mit Blattstichsticker wird bis heute getragen.
Sicherheit im Wandel
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1935–39: SS‑Reiter eskortierten propagandistisch den Zug.
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2025: Betonsperren & städtische Fahrzeuge blockieren Zufahrten nach den Anschlägen von Magdeburg und Mannheim .
Kurioses & Schönes
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2013 ließ das Amtsgericht‑Glockenspiel eine Woche lang das Sommertagslied ertönen .
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Absagen wegen schlechten Wetters sind selten, aber 2017 fror der Zug buchstäblich ein.
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Aus dem Landfunker-Archiv
Historische Aufnahmen vom Bruchsaler Sommertagsumzug