08.09.2020 | In Östringen will man mit der sorgfältigen Aufarbeitung umfangreicher Dokumente, Akten, Planunterlagen und Bildmaterialien aus den Archiven des ehemaligen örtlichen Nylonfaserwerks einen wichtigen Teil der jüngeren Stadtgeschichte in seinen Details nachzeichnen.
Sozusagen auf der „grünen Wiese“ war westlich von Östringen ab 1963 das damals mit Abstand größte Nylonfaserwerk Europas entstanden, in dem phasenweise an die 3.000 Mitarbeiter beschäftigt waren. Das ehrgeizige Projekt, für das der britische ICI-Konzern im Rahmen seiner Strategie zur Expansion auf den Kontinent rund 430 Millionen D-Mark investierte, behauptete nicht zuletzt auch wegen vieler innovativer Entwicklungen über Jahrzehnte eine weltweit führende Stellung bei der Herstellung und Verbesserung von Nylonfasern. Die „Nylon“, wie die hochmoderne Produktionsstätte im Sprachgebrauch der Einheimischen und Beschäftigten kurz und prägnant bezeichnet wurde, bescherte Östringen nicht nur Weltruf, sondern machte aus dem einst von bäuerlicher Landwirtschaft und kleingewerblichem Handwerk geprägten Kraichgauflecken Östringen binnen kurzem einen rasant aufstrebenden Industriestandort.
Nachdem die Eigentümer des Unternehmens ab 1993 mehrfach gewechselt hatten – auf die ICI folgte der amerikanische Chemiemulti DuPont, später übernahm Invista und schließlich wurde die Sparte Textil vom israelischen Nilit-Konzern fortgeführt – ist das Östringer Nylonfaserwerk seit seiner Schließung 2011 Geschichte.
Dass nun das „Nylon-Erbe“ von Östringen für die Nachwelt gesichert werden kann, ist der Initiative des früheren ICI-Prokuristen Walter Rothermel zu verdanken, der sich in Verhandlungen mit der Firma Invista die vielfältigen Dokumente und Unterlagen sowie zudem auch Teile des einst für die Nylonherstellung verwendeten Maschinenparks sichern konnte.
Wertvolle Zeugnisse der Zeitgeschichte
Mit der Stadtverwaltung konnte sich Rothermel zwischenzeitlich darauf verständigen, dass das Nylon-Archiv bis auf weiteres in einem im Eigentum der Kommune stehenden Anwesen in der Gartenstraße sein Domizil bekommt. „Diese wertvollen Zeugnisse der Zeitgeschichte mit ihrer besonderen Bedeutung für die lokale und regionale Entwicklung mussten wir auf jeden Fall vor der Vernichtung bewahren“, begründete Bürgermeister Felix Geider jetzt die Übernahme der umfangreichen Aktenkonvolute und Materialsammlungen, die nun vom Freundeskreis des Heimatmuseums sowie einer Reihe ehemaliger Nylon-Mitarbeiter gesichtet, nach Entstehungszeitpunkt und thematischen Zusammenhängen aufgearbeitet und schließlich nach den Regeln des Archivwesens geordnet werden.
Bei einem Treffen im Archivraum warfen die Ehrenamtlichen nun einen ersten Blick auf die historischen Dokumente, darunter eine große Anzahl von Fotos, Videos und Dias, Druckschriften des ehemaligen Werks, Bau- und Organisationspläne sowie Produkt- und Verfahrensbeschreibungen. Vervollständigt wird das Archivgut von diversen Anschauungsmaterialien wie dem Schmelzgranulat als Ausgangsstoff der Faserherstellung, gesponnenen Nylonfasern sowie einer Reihe von Beispielen für die Verwendung dieser Fasern vom Nylonstrumpf bis hin zum Teppichboden.
Nylonstrümpfe aus Östringen für die Welt
„Zeitweise hatten auf dieser Welt fast alle Damen, die Nylonstrümpfe trugen, damit einen ganz unmittelbaren Bezug zu Östringen“, schmunzelt Walter Rothermel bei der Erinnerung an eine heute längst vergangene Zeit. Der inzwischen 79-Jährige ist trotz seines fortgeschrittenen Alters umtriebig wie eh und je. Seinen Vorstellungen zufolge soll der damalige Produktionsablauf der interessierten Öffentlichkeit in einem virtuellen Rundgang dargestellt werden und Rothermel trägt sich sogar mit Überlegungen, den Prozess zur Herstellung von Nylonfasern, der zu den Glanzzeiten des Östringer Werks zu den bestgehüteten Industriegeheimnissen der Chemiebranche zählte, zu Demonstrationszwecken in kleinem Maßstab noch einmal in Gang zu bringen. Sachkundige und tatkräftige Unterstützung hat Walter Rothermel mit seinem Vorhaben sehr schnell insbesondere auch bei Gabriele Offner, der Leiterin des Östringer Heimatmuseums gefunden – durchaus kein Zufall, denn auch Offner arbeitete lange Jahre bei der „Nylon“.
Text/Foto: Braunecker
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