Am 1. März 1945, diesem für Bruchsal so schicksalhaften Tag, kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs, war Kurt Henn elf Jahre alt. Heute, ein ganzes Leben später, erinnert er sich immer noch an alles, als wäre es gestern gewesen. Und erzählt uns, wieso er nur dank seiner Vergesslichkeit noch lebt.
Kurt Henn ist ein waschechter Bruchsaler. Geboren wurde er in der Klosterstraße, die damals noch Klostergasse hieß. Nummer 9, im zweiten Stock. Die Miete betrug damals 36 Mark. Auch heute lebt er noch dort und kennt die Stadt wie seine Westentasche. Am Tag des Luftangriffs war er gerade auf dem Heimweg vom Holz holen: „Es gab Vor-Alarm, aber das war nichts Außergewöhnliches, sondern fast schon Alltag. Also haben wir nicht sofort reagiert. Als ich dann aber ein paar Minuten später in den Himmel schaute, konnte ich die Bomben schon mit bloßem Auge erkennen.“ Der Hauptalarm ertönte erst, als die Bomben schon fielen. Kurt Henns Nachbarin packte den Jungen am Arm und lief mit ihm in den Bunker des Hauses. Dort harrten sie mehrere Stunden aus und wagten nur ab und zu für wenige Sekunden den Blick nach draußen. „Dicke Betonsteine leuchteten wegen des Phosphors, das war unglaublich.“
Kurt Henns Vater ist sehr jung gestorben, seine Mutter versuchte ihn und seinen damals dreijährigen Bruder über die Runden zu bringen. „Wir waren arm, das kann man heute auf jeden Fall so sagen. Mein Bruder und ich erhielten Halbwaisenrente, die reichte aber gerade für die Miete. Wir pflanzten Blumen und hielten Hühner, so konnten wir uns mit kleinen Sträußen und Eiern etwas dazuverdienen.“ Irgendwann erhielt die Familie eine bescheidene Rente vom Möbelhaus Schilling, dem ehemaligen Arbeitgeber des verstorbenen Vaters. Diese Rente sollte Kurt Henn am 1. März um 14 Uhr abholen. „Das wäre mein sicherer Tod gewesen, denn das Möbelhaus befand sich mitten in der Stadt, dort wo heute die Volksbank ist. Meine Vergesslichkeit hat mir das Leben gerettet.“
Als die ganze Innenstadt von Bruchsal zerbombt war, hatten viele Menschen ihr zuhause verloren. Auch wenn Kurt Henn, Mutter und Bruder selbst nur drei Zimmer zur Verfügung hatten, nahmen sie zwei Familien bei sich auf: „Das war keine Frage. Man hielt zusammen, unterstützte sich gegenseitig.“
Jeder spricht vom 1. März, von der Bombardierung selbst, davon, was für ein schöner, sonniger Tag es eigentlich war. Die Tage die folgten, waren für Kurt Henn jedoch fast noch schlimmer als der Angriff selbst: „Der Totengräber ist durch die Straßen gefahren und hat die Leichen eingesammelt. Sie wurden einfach auf einem Wagen übereinandergestapelt, wie irgendwelche Gegenstände. Ich werde nie den süßlich-bitteren Geruch vergessen, der über der Stadt lag.“ Wochenlang qualmte es in Bruchsal, an normalen Alltag war nicht zu denken. Kurt Henn erinnert sich, dass er über ein Jahr lang nicht zur Schule ging. „Stattdessen half ich oft beim Bäcker aus. Nachts um halb drei ging ich in die Backstube – das beste war, dass ich Brötchen mit nach Hause nehmen durfte.“ Sein großer Traum war es, Rennfahrer zu werden. Daraus wurde zwar nichts – aber seine Frau Eleonore verrät lachend, dass er auch heute noch gerne schnell fährt. Die beiden sind seit 63 Jahren verheiratet und haben drei Töchter. Sie haben ihre Eltern nie nach dem Krieg gefragt, Kurt Henn hat jedoch kein Problem, darüber zu sprechen:
„Ich finde es wichtig, dass man sich daran erinnert. Vergessen werde ich es sowieso niemals.“
Henn ist ein kluger, ein wissbegieriger Mann. Er ist gut informiert – nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über aktuelle Themen. Donald Trumps Politik macht ihn wütend und er hofft, dass die Generation seiner Enkel und Urenkel niemals über Krieg nachdenken muss.
„Wir können dankbar sein, dass wir schon so lange in Friedenszeiten leben. Und wir müssen alles dafür tun, dass das so bleibt.“
Text: Lidija Flick, Bilder: Kurt Henn
Aus RegioMagazin WILLI 03/19
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